Frage:
Einige Ereignisse, die zuletzt in Tunesien stattgefunden haben, rufen Fragen darüber auf, ob die derzeitige Gefolgschaft Tunesiens in einer Änderung begriffen ist oder nicht. Zu diesen Ereignissen zählen die folgenden:
- - In den Medien Tunesiens, insbesondere in den beiden Zeitungen „Tunis News" und „Al-Wasat Al-Tunisiyya" wurden Berichte veröffentlicht, dass der tunesische Präsident Zain Al-Abidine unter Prostatakrebs leide, von dem es keine Heilung gebe. Er sei insgeheim nach Europa gefahren, um dort behandelt zu werden.
- - Im August 2005 wurde der tunesische Diplomat Kamel Morjane, der in der UNO-Flüchtlingsorganisation arbeitete, zum tunesischen Verteidigungsminister ernannt. Nachdem Kamel Morjane seine Ministertätigkeiten aufnahm, startete er eine eilige diplomatische Großoffensive, bei der es zu wichtigen Vertragsabschlüssen mit den Vereinigten Staaten kam.
- - Im Februar 2006 unternahm Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eine Reise in die arabischen Maghreb-Staaten (Lybien, Tunesien, Algerien, Mauretanien und Marokko), die ihn auch nach Tunesien führte. Im selben Jahr unternahm Kamel Morjane eine Reise in die Vereinigten Staaten.
- - Im Jahr 2007 führte die erste außereuropäische Reise des neugewählten französischen Präsidenten Sarkozy - der für seine Nähe zu den USA bekannt ist - in die arabischen Maghreb-Staaten.
- - Ende Juni 2007 wurde eine Gruppe von Führungspersönlichkeiten aus der tunesischen Nahda-Bewegung auf freien Fuß gesetzt.
- - Vergangene Woche besuchte der amerikanische Vize-Generalstabschef Admiral Edmond J. Bastian Tunesien und traf dort hohe politische Verantwortliche. Es folgte ihm eine Delegation amerikanischer Offiziere nach, die ebenso Tunesien besuchte.
Bedeutet nun all dies, dass die USA beginnen, in Tunesien Fuß zu fassen?
Antwort:
Um die Antwort zu verdeutlichen, muss Folgendes erwähnt werden:
- 1. Tunesien ist eines der potentiellen Gebiete, das für ein Ringen der Kolonialstaaten um Hegemonie in Frage kommt. Dies wegen seiner strategischen Lage und seiner besonderen Vorteile. Darüber hinaus zählt es zu den politischen Experimentallaboren westlicher Staaten. Nach dem Auszug der französischen militärischen Kolonialmacht fiel es dem Hegemonialbereich Englands zu.
Nach der Beseitigung Al-Habib Bourqibas von der Macht im Jahre 1987, da er bereits zu alt und unfähig war, die Regierungsgeschicke zu leiten, folgte ihm Zain Al-Abidine an die Staatsspitze. Dieser war wie sein Vorgänger den Engländern vollkommen und ohne irgendwelche Vorbehalte treu ergeben.
- 2. Die USA nutzten die Spannungen zwischen Lybien und Tunesien im Jahre 1988 und versuchten, Druck auf Zain Al-Abidine auszuüben und ihn zu verlocken, um in Tunesien Fuß zu fassen. Sie gewährten Tunesien großzügige Sicherheitshilfen im Wert von 61 Millionen Dollar, und zwar unter dem Titel „Zurückschlagen der Aggression". Absicht war, den tunesischen Präsidenten dazu anzustacheln, eine Front gegen Oberst Gaddafi zu eröffnen und sich mit den Amerikanern gegen sein Regime zu stellen. Doch Zain Al-Abidine Bin Ali zeigte schnell sein wahres Gesicht, drehte den USA die kalte Schulter zu und verbesserte seine Beziehungen zu Gaddafi. Die USA reduzierten daraufhin ihre Hilfe für Tunesien auf lediglich 8 Millionen Dollar. Somit gelang es den USA nicht, die Agentenschaft Bin Alis für England zu durchbrechen. Vielmehr folgte dieser dem Weg, den sein Vorgänger Bourqiba beschritten hatte.
- 3. Im Dezember 1994 unternahmen die USA mehrere Anstrengungen in dieser Richtung. Dies geschah auf dem Wege einer Initiative, die als „Dialog des Mittelmeeres" bezeichnet wurde und unter der Schirmherrschaft des Nordatlantikpakts (der NATO) stattfand. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelang es nämlich den USA, dieses Bündnis in sehr effizienter Weise zu für ihre Interessen zu benützen. Erwähnenswert ist, dass dieser „Dialog" die Länder Algerien, Ägypten, „Israel", Jordanien, Mauretanien, Marokko und Tunesien umfasst, obwohl diese Staaten nicht Mitglied der Nato sind.
- 4. Im Gegenzug versammelte die Europäische Union während der Konferenz von Barcelona im November 1995 die Mitgliedstaaten der EU und ebenso die Mittelmeerstaaten Algerien, Ägypten, „Israel", Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien, Tunesien, die Türkei und die palästinensische Behörde. Diese Konferenz fand unter dem Titel „EUROMED-PROJEKT" statt. Die Europäische Union gab für dieses Projekt von 1995 bis 2000 eine Summe von sieben Milliarden Euro aus. Später wurde zwischen fünf südeuropäischen Staaten (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Malta) und fünf nordafrikanischen Staaten, zu denen die arabischen Maghrebstaaten (Algerien, Marokko, Tunesien, Lybien und Mauretanien) zählten, eine Union gebildet. Sie erhielt die Bezeichnung „5+5". Diese Union legte das Gewicht auf die Terrorbekämpfung und die illegale Einwanderung. All das vereitelte aufs Neue die amerikanischen Bestrebungen, einen Einfluss in dieser Region zu gewinnen. Als belegendes Beispiel sei hier angeführt, dass nur 2 Prozent des amerikanischen Außenhandels und weniger als 1 Prozent der amerikanischen Investitionen mit dieser Region verbunden sind.
- 5. In dieser Zeit gelang es auch dem Regime Zain Al-Abidines, alle Versuche zu blockieren, die seitens des früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton zur Durchbrechung des tunesischen Walls unternommen wurden. So vermochte es der damalige Berater der amerikanischen Außenministerin Pelletro während seines Besuches in Tunesien nicht, das tunesische Regime den anderen Regimen anzuschließen, die einverstanden waren, bei den amerikanischen Sicherheitsprojekten in Nordafrika mitzumachen.
- 6. Als im Jahre 2000 die US-Administration wechselte, wurde die amerikanische Blickrichtung auf dieses Gebiet verschärft. Der Druck auf diese Länder, sich zu reformieren, verstärkte sich. Diese Reformvorschläge wurden den Ländern der Region im Zuge des „Projekts für den großen Mittleren Osten" unterbreitet. Trotzdem gelang es den Vereinigten Staaten nicht, greifbare Resultate zu erzielen.
- 7. Der erste amerikanische Teilerfolg bei der Durchdringung des hochfesten tunesischen Sicherheitswalls stellte sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ein, als die Rede von der Errichtung amerikanischer Militärbasen gang und gebe wurde. So veröffentlichte die Zeitung „Wall Street Journal" am 10. Juni 2003 einen Bericht, in dem offizielle Vertreter des Pentagons mit der Idee zitiert wurden, quasipermanente Militärbasen in Tunesien, Algerien und Marokko zu errichten. Dies im Zuge einer geplanten, umfassenden Umstellung der weltweiten Militärpräsenz der Vereinigten Staaten. Dazu zählen Pläne zur Reduktion der in Deutschland stationierten amerikanischen Streitkräfte und ihre Überstellung in andere Gebiete.
Auch bestätigten im Ausland befindliche tunesische Oppositionellenkreise diese Berichte. Sie erwähnten, dass der Aufbau einer amerikanischen Militärbasis in der Gegend von Bensirt geplant sei, wobei ein Teil von ihr als Flugbasis in Sidi Ahmed errichtet werden soll und der andere als Marinebasis in Bashatir.
In den letzten Jahren nahm Tunesien an periodisch stattfindenden Sicherheitskonferenzen teil, an denen auch die restlichen nordafrikanischen Staaten sowie die Vereinigten Staaten teilnahmen. Erklärtes Ziel dieser Konferenzen ist die Terrorismusbekämpfung und die Verfolgung der Al-Kaida-Kämpfer in Nordafrika.
Die USA übten noch andere Druckmaßnahmen auf die tunesischen Herrscher aus, um die Amerikaner im Irak zu unterstützen. So wurde am 30. Dezember 2003 vom Kongresskomitee für amerikanische Außenbeziehungen ein Bericht mit dem Titel: „Afrika: die Terrorprotektorate" veröffentlicht. Darin wurde Tunesien gemeinsam mit Ägypten und Algerien unter jenen Ländern eingestuft, die mittelfristig eine potentielle Gefahr für die Entwicklung von Terrorbedrohungen bilden.
Die wiederholten Besuche der Kongressabgeordneten und der amerikanischen Regierungsvertreter in Tunesien während der vergangenen zwei Jahre reihen sich ebenfalls in diese Strategie ein; die Strategie von Druckausübung und Verlockung, um das Regime zu durchdringen.
Trotzdem vermochten es all diese Druckmaßnahmen nicht, Tunesien ins amerikanische Schlepptau zu nehmen. Die diesbezüglichen scheinbaren Anzeichen sind eher taktisch zu verstehen; in der altbewährten britischen Art, keine offene Konfrontation mit den USA einzugehen, sondern sie von hinter den Kulissen bei der Umsetzung zu stören.
Den Engländern ist das ernsthafte Interesse der USA an Tunesien, ja an ganz Nordafrika, wohl bewusst. Genauso wie sie die Machtübertragung von Bourqiba an seinen Vertrauensmann Zain Al-Abidine in die Wege leiteten, arbeiten sie auch jetzt - bereits im Vorfeld - an der Vorbereitung der Regierungsübergabe von Zain Al-Abidine an einen Nachfolger, der ebenfalls in der britischen Gefolgschaft verbleibt. Gleichzeitig zeigen sie aber diesen Nachfolger als jemanden, der die USA nicht provozieren will und ihnen nicht feindlich gesinnt ist, um damit dem wachsenden amerikanischen Druck auf Tunesien den Wind aus den Segeln zu nehmen. So fiel die britische Wahl auf Kamel Morjane, um den amerikanischen Druck zu vermindern, da dieser Mann für die USA akzeptabler ist als Zain Al-Abidine.
Allerdings muss erwähnt werden, dass die Krankheit Zain Al-Abidines nicht dramatisch ist. Die Möglichkeit, dass er bis zum Ende seiner Amtszeit 2009 an der Macht bleibt, ist durchaus gegeben. Das Winken mit der Nachfolge Kamel Morjanes hatte nur den Zweck, den amerikanischen Druck auf Tunesien zu vermindern. Dies ist die traditionelle Taktik der Briten zur Festigung ihres Einflusses in einem Land, die sie immer dann anwenden, wenn sie merken, dass dieses Land einem Druck ausgesetzt ist. Sie ähnelt auch ihrer Vorgangsweise bei der Erhaltung des lybischen Regimes, als es verstärktem amerikanischen Druck ausgesetzt war. England flüsterte Gaddafi ein, vor den USA auf die Knie zu fallen, sein Waffenprogramm aufzugeben, in der Lockerby-Affäre einzulenken und die geforderten Schadenersatzzahlungen zu leisten. All das, um den USA jede Rechtfertigung zu nehmen, weiter Druck auf Gaddafi auszuüben oder um diesen Druck zumindest zu reduzieren.
Dieses Winken mit Kamel Morjane als Nachfolger für den kranken Zain Al-Abidine, der nicht mehr lange zu leben habe - wobei England die Nachricht seiner Erkrankung dramatisierte, als ob er sich tatsächlich in den letzten Atemzügen befände - dient, wie gesagt, weiterem amerikanischen Druck auf Tunesien den Weg abzuschneiden. Um dies gut begreiflich zu machen, wollen wir einige Informationen über Kamel Morjane, der das Verteidigungsministerium inne hat, darlegen:
- 1. Kamel Morjane ist ein fähiger Diplomat.
- 2. Trotz seiner Bekanntheit wegen der Posten, die er im Ausland innehatte, ist er ein aktives Mitglied in der Regierungspartei, auch wenn dies nicht sichtbar ist.
- 3. Mit dem jetzigen Präsidenten Zain Al-Abidine Bin Ali ist er verschwägert. Er ist auch verwandt mit ihm und beide gehören der gleichen Sippe an. Beide stammen aus der Stadt Hammam Soussa. Die Frau Kamel Morjanes ist die Nichte schwesterlicherseits von Zain Al-Abidine. Und Zain Al-Abidine, der für seine Fuchsschläue bekannt und vom gehässigen Misstrauen britischer Politik geprägt ist, vertraut Kamel Morjane. Deswegen übertrug er ihm auch ein so wichtiges Ressort wie das Verteidigungsministerium.
- 4. Wegen seiner Aufgaben im Ausland, die er für lange Zeit innehatte, gewann er Bekanntheit und ein hohes Ansehen in der internationalen Gemeinschaft.
- 5. Da er von den innenpolitischen Maßnahmen des tunesischen Staates entfernt war, ist sein Name durch die Verbrechen des tunesischen Regimes gegen Land und Leute nicht beschmutzt worden, obwohl er Tunesien in seinen Ansprachen, insbesondere in denen vor den Vereinten Nationen, stets in Schutz genommen hat. Deswegen kann er auch von diesem Aspekt her sowohl lokal als auch weltweit leicht und problemlos akzeptiert werden.
Aus diesen Gründen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kamel Morjane sich den USA zuneigen könnte, äußerst gering.
Zuletzt war auch beobachtet zu beobachten, dass Kamel Morjane alles tut, was ihm möglich ist, und jedes Mittel einsetzt, das ihm zur Verfügung steht, um sich vor jenen Kräften zu profilieren, die sich ihm seiner Meinung nach entgegenstellen könnten. Er tut dies, damit sie ihn, seine Erfahrung, seine internationale Stellung und seinen innenpolitischen Einfluss akzeptieren. Die politische Offensive, die Kamel Morjane initiierte, ist voller Beschwichtigungsbotschaften betreffend seine Person. Er machte klar, dass er nichts gegen die internationale Gemeinschaft, insbesondere gegen die Interessen der USA, unternehmen werde. Dadurch hofft er, die USA neutral halten zu können, damit diese nichts gegen ihn unternehmen bzw. ihm keine Hindernisse in den Weg legen.
So viel zur Person Kamel Morjanes.
Was Zarkozy anlangt, dessen erste außereuropäische Reise ihn in die arabischen Maghrebstaaten führte, so traten bei dieser Reise keine erkennbaren Einflüsse auf den Machtwechsel in Tunesien auf. Er betonte bei seiner Reise vielmehr die „Mittelmeerpartnerschaft", und zwar in so einem Maße, dass Marokko seinen Besuch mit fadenscheinigen Entschuldigungen ablehnte. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass sein Besuch der Stärkung des französischen Kultureinflusses dient und nicht um politischen Einfluss auf das tunesische Regime auszuüben. Der Besuch stellt eine Fortsetzung der Reisen Sarkozys in britische Einflussgebiete dar, und zwar unter Absprache mit den Briten selbst. Er ähnelt in weitem Maße seinem Besuch in Lybien vor einiger Zeit.
Was die Freilassung der 21 politischen Gefangenen Ende vergangenen Juli betrifft, nachdem Sarkozy bei seinem Besuch in Tunesien über Menschenrechte und die politischen Gefangenen sprach, so sind diese Gefangenen zum Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Entstehung der tunesischen Republik freigelassen worden. Die Verknüpfung der Freilassung mit diesem Ereignis lässt es fernliegend erscheinen, dass sie wegen dem Besuch Sarkozys erfolgt ist. Das politische Kapital, das man daraus schlagen könnte, gilt eher dem Einklang mit den amerikanischen Forderungen nach Menschenrechten, Reformen und Demokratie als Sarkozys Bitten zu entsprechen. Ausgenommen davon ist der Menschenrechtsaktivist und Rechtsanwalt Muhammad Abbu. So hat Sarkozy diesen Fall während seines Treffens mit Zain Al-Abidine explizit angesprochen. Die restlichen Zwanzig, die freigelassen wurden, gehören der Nahda-Bewegung an. Man hat sie unter bestimmten Restriktionen auf freiem Fuß gesetzt, die ihnen seitens des tunesischen Justizministeriums auferlegt wurden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Kamel Morjane nach englischen Anweisungen „frühzeitig" ins Verteidigungsministerium berufen wurde, um den amerikanischen Druck auf das tunesische Regime zu mindern und Kamel- wenn es nötig werden sollte - für die Übernahme der Staatspräsidentschaft vorzubereiten, damit er keine bösen Überraschungen erlebt oder innenpolitische bzw. außenpolitische Hindernisse in den Weg gelegt bekommt. Dies unter der Prämisse, die „Suppe auf äußerst kleiner Flamme zu garen."
Trotzdem gelangt man zum Ergebnis, dass Reformen in Tunesien zu erwarten sind, die mit den amerikanischen Wünschen im Einklang stehen, auch wenn sie für die USA nicht ganz befriedigend ausfallen werden. Zudem wird es einige Verbesserungsschritte im Bereich der Menschenrechte und Ähnliches geben. Jedoch ist es noch viel zu früh zu behaupten, dass die USA in Tunesien Einfluss gewonnen hätten oder kurz davor stünden. Tunesien zählt noch immer zu jenen Staaten, deren Loyalität den Engländern und Europäern sicher ist. Der tunesische Sicherheitswall stellt nach wie vor ein festes Bollwerk gegen jeden amerikanischen Infiltrationsversuch dar. Solange das Militär und die Sicherheitsapparate kompakt unter Führung der britischen Agenten stehen, wird es für die Amerikaner schwierig sein, bei ihren Versuchen, den Sicherheitswall zu durchdringen, Erfolg zu haben.