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Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Allerbarmers

Antwort auf eine Frage

Der Nato-Beitritt von Schweden und Finnland

 

Frage: Aufgrund der russischen Invasion der Ukraine haben Finnland und Schweden am 18. Mai 2022 ihre Anträge auf Beitritt in die Nato formal im Hauptquartier der Nato in Brüssel eingereicht. Jedoch folgte unmittelbar auf die Bekanntgabe des Beitrittsgesuchs der Einwand seitens der Türkei, und zwar wegen des Standpunkts der beiden Länder zum türkischen Kampf gegen die bewaffneten Kurdenmilizen, allen voran gegen die kurdische Arbeiterpartei (PKK), die in der Türkei und der Region aktiv ist. Es ist bekannt, dass alle 30 Nato-Mitglieder, darunter auch die Türkei, einem Beitritt unbedingt zustimmen müssen, damit beide Länder die Mitgliedschaft erlangen… Was steckt nun hinter alldem und welche Beweggründe spielen dabei eine Rolle?

 

Antwort:

Damit die Antwort klar wird, wollen wir auf folgende Aspekte eingehen:

Erstens: Durch den Nato-Beitritt Finnlands, wo die Entscheidung für eine Nato-Mitgliedschaft schneller fiel als in Schweden, würde sich die Länge der gemeinsamen Grenze Russlands mit den Nato-Mitgliedsstaaten - aus russischer Sicht momentan ein „feindliches Bündnis“ - auf 2600 Kilometer verdoppeln. Allein die Grenze Finnlands mit Russland hat eine Länge von 1300 Kilometer. Im Vergleich dazu ist die russisch-ukrainische Grenze nicht einmal 400 Kilometer lang, wobei ja der mögliche Nato-Beitritt der Ukraine eines der erklärten Hauptargumente für den laufenden Krieg war. Sollte es schließlich noch zum Nato-Beitritt Schwedens kommen, auch wenn das Land keine direkte Grenze mit Russland hat, dann wird es für die Nato einfach werden, größere und gefährlichere Manöver in der Ostsee durchzuführen. Bis auf Russland wären dann nämlich alle Staaten mit Zugang zur Ostsee Nato-Mitglieder. Die Folge wäre die Schwächung der strategischen Präsenz Russlands in diesem Meeresbecken, das sich dann in einen nahezu vollständig von der westlichen Militärallianz kontrollierten Binnensee verwandeln würde. Zudem würde der Nato-Beitritt Schwedens auch die schwedische Ostseeinsel Gotland unter die Kontrolle des Bündnisses stellen, was es Russland erschweren wird, in dieser Region aktiv zu sein, Militärübungen und Militärmanöver durchzuführen oder auch nur eine permanente Präsenz in der Region aufrecht zu erhalten. Ferner ist zu bedenken, dass beispielsweise Schweden über fünf hochmoderne U-Boote verfügt, die eine qualitativ bedeutsame Ergänzung zur deutschen und polnischen Marineflotte bilden würden, was eine weitere Einschnürung jeglicher russische Militärbewegungen in der Region zur Folge hätte.

Zweitens: Aus militärischer Perspektive stellt der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens den Kreml vor äußerst komplizierte und schwierige Optionen. Das betrifft nicht nur die militärische und strategische Dimension der derzeitigen Entwicklung, die seit dem Kalten Krieg die gefährlichste ist. Hinzu kommt auf politischer Ebene, dass der Kreml den Krieg in der Ukraine unter dem grundsätzlichen Motto geführt hat, die Gefahr der Nato-Osterweiterung abzuwehren und es dem Bündnis nicht zu ermöglichen, seinen Einfluss in der Ukraine - nahe der russischen Grenze - zu festigen. Und wie sieht nun das Ergebnis aus, wenn Finnland und Schweden der Nato beitreten? Das wird zweifellos zu einer der gefährlichsten politischen Folgen dieses Krieges, denn praktisch gesehen wird die Nato damit lediglich 200 Kilometer von der Stadtgrenze Sankt Petersburgs entfernt sein. Dies wiederum stellt einen schweren politischen Schlag für die Ambitionen des Präsidenten Wladimir Putin dar und wird innerrussisch Fragen ob der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit eines solchen Krieges gegen die Ukraine aufwerfen, ohne derart gefährliche Folgen bedacht zu haben!

Drittens: Der Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato wird auch Folgen für die westliche Konfrontation mit China haben. Es ist davon auszugehen, dass im Rahmen des Nato-Gipfels in Madrid Ende dieses Monats (Juni 2022), die Eindämmung des chinesischen Einflusses zum ersten Mal in der Geschichte der Nato Eingang in die Bündnisstrategie finden und als Ziel festgelegt werden wird. Zudem macht die Nato kein Geheimnis daraus, dass sie gewillt ist, das Bündnis über die westliche Welt hinaus zu erweitern. So wurden Einladungen zur Teilnahme am besagten Gipfel an die Außenminister Japans, Südkoreas, Australiens und Neuseelands verschickt… Aus dieser Perspektive stellt der offizielle Nato-Beitrittsantrag, den Finnland und Schweden gestellt haben, einen politischen Sieg für den Präsidenten Joe Biden, eine Niederlage für Präsident Putin und eine Gefahr für den chinesischen Präsidenten Xi Jinping dar.

Viertens: Die Nato-Gründung vollzog sich kurze Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Bündnis umfasst 30 Staaten und die Türkei gilt darin als zweitgrößte militärische Macht nach den Vereinigten Staaten. Wenn ein neuer Staat den Beitritt beantragt, dann ist das Einverständnis aller Bündnismitglieder nötig, um das Beitrittsgesuch anzunehmen. Daraus ergibt sich auch die Relevanz der türkischen Vorbehalte gegenüber dem Beitritt der beiden europäischen Staaten… Denn seit ihrem Beitritt vor 70 Jahren hat die Türkei die Ausweitung des Bündnisses stets unterstützt. Jetzt aber widerspricht Erdogan dem Beitritt Schwedens und Finnlands in die Nato aus vier Gründen:

1. Der Versuch Erdogans trotz wirtschaftlicher Rezession im Amt zu bleiben. So ist die Inflationsrate in der Türkei um drei Zehnerstellen gestiegen, während der Lira-Verfall sich weiter fortsetzte. Und dies stürzte die ohnehin taumelnde Wirtschaft in eine noch tiefere Krise. Vor diesem Hintergrund steht der Präsident angesichts der 2023 anstehenden Wahlen vor Problemen. Denn seit seiner Amtsübernahme vor ca. 20 Jahren stand der Präsident zu keiner Zeit so schwach da. So ist seine Popularität laut den letzten Umfragen zurückgegangen. Deshalb will er durch die Demonstration von Widerstand gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens Druck auf das Bündnis ausüben, wodurch er sich wirtschaftliche und militärische Hilfen der Nato-Staaten erhofft, um seine Popularität vor den Wahlen zu steigern…

2. Erdogan hat die Hoffnung, aus dem Thema des Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands Profit zu schlagen. Er sieht dies als Chance, um ein von ihm lang ersehntes Ziel zu erreichen: eine Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze, die frei von kurdischen Kämpfern ist. Zudem soll es durch die Ausdehnung der befreiten Gebiete in Syrien der Türkei ermöglicht werden, die syrischen Flüchtlinge zurückzuführen, die laut Opposition ein Problem in der Türkei darstellen. Ferner spiegeln die militärischen Operationspläne seine Ansicht wider, dass sich der Westen derartigen Maßnahmen nicht entgegenstellen wird, solange er bei den Bemühungen der beiden europäischen Staaten, der Nato beizutreten, die Unterstützung aus Ankara benötigt. Die Äußerungen Erdogans zielen weiterhin darauf ab, die Unterstützung seitens der Nationalisten zu festigen, um sich für die schwierigen Wahlen im kommenden Jahr vorzubereiten. So haben in der Vergangenheit die militärischen Operationen entlang der Grenze zu einem Anstieg seiner Zustimmungswerte geführt. Sein Vorgehen geschieht also zu einer Zeit, in der - inmitten heftiger Wirtschaftsprobleme - die Meinungsumfragen einen Rückgang seiner Zustimmungswerte verzeichnen sowie der Zustimmungswerte seiner regierenden Partei, der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung.

3. Der Wunsch Erdogans nach einem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten. Im vergangenen April beschwerte sich Erdogan vor Journalisten, dass er und Biden nicht dieselbe Art Beziehung hätten, wie er sie mit den beiden vorherigen Präsidenten Donald Trump und Barack Obama pflegte. Erdogan sagte: „Natürlich gibt es von Zeit zu Zeit Treffen, jedoch sollten diese fortgeschrittener sein.“ Er fügte hinzu: „Ich hoffe, dass wir dies beim kommenden Verfahren realisieren.“ (https://arabic.cnn.com, 24.05.2022) Das bedeutet, dass es nicht um Schweden und Finnland geht, sondern vielmehr der Zeitpunkt passend ist, wodurch sich Erdogan erhofft, sein Treffen mit Biden beschleunigen zu können. Denn dieser hat den türkischen Staatschef auf Distanz gehalten.

4- Der Stopp der westlichen Unterstützung für die Kurden und die Auslieferung der Mitglieder der Bewegung „Hizmet“ durch den Westen. Erdogan verfolgt nach wie vor die Mitglieder der Bewegung „Hizmet“: Die türkische Zeitung „Zaman“ berichtete, dass die staatlichen Behörden die Inhaftierung von 40 Personen angeordnet haben, darunter suspendierte Beamte und Militärangehörige, denen die „Mitgliedschaft in der Hizmet-Bewegung“ vorgeworfen wird, die vom Prediger Fethullah Gülen angeführt wird. Die Zeitung machte auf Razzien in zahlreichen türkischen Städten, vor allem in Istanbul und Ankara aufmerksam, um die Gesuchten festzunehmen… (Quelle: Zaman, 01.06.2022). Im Hinblick auf die westliche Unterstützung der Kurden haben zahlreiche europäische Staaten den militärischen Arm der Partei der Demokratischen Union, die „Volksverteidigungseinheiten“, mit Waffen unterstützt, obwohl die Europäische Union die kurdische Arbeiterpartei als Terrororganisation einstuft. Ankara hingegen erachtet „Die Partei der Demokratischen Union“ als verlängerten Arm der kurdischen Arbeiterpartei in Syrien, weshalb die genannte Unterstützung seitens der Türkei stark abgelehnt wird. Zudem kritisiert Ankara die Existenz von Vertretungsbüros kurdischer Organisationen in einigen europäischen Staaten, den Empfang ihrer Mitglieder und die ihnen gewährte Erlaubnis, auf europäischem Boden politisch aktiv zu sein. Der Forderung Ankaras zur Auslieferung dieser Personen kamen jedoch die meisten europäischen Staaten nicht nach. Im Rahmen der türkischen Vorbehalte gegen den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens hat Erdogan nun diese Angelegenheit vorgebracht und damit versucht, sie zu nutzen, um die westliche Unterstützung der Kurden ganz zu beenden oder zumindest abzuschwächen und die Auslieferung der Mitglieder der Hizmet-Bewegung zu erreichen.

Fünftens: Es finden intensive Gespräche zwischen der Türkei einerseits und Schweden, Finnland, den Vereinigten Staaten und weiteren Mitgliedern der Nato andererseits statt, um einigen Forderungen Ankaras nachzukommen, damit Ankara im Gegenzug dem Bündnisbeitritt Stockholms und Helsinkis zustimmt: Am 18. Mai 2022 führte der Sprecher des türkischen Präsidenten Ibrahim Kalin telefonische Gespräche mit hochrangigen Verantwortlichen aus Deutschland, Schweden, Finnland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten, in denen es um die Frage der Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands in der Nato ging… (27.05.2022, https://futureuae.com). Am selben Tag kam der türkische Außenminister Çavuşoglu mit seinem amerikanischen Amtskollegen Antony Blinken zur ersten Sitzung für „türkisch-amerikanische Strategiemechanismen“ in New York zusammen, in der die Frage nach dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands erörtert wurde… (18.05.2022, https://mubasher.aljazeera.net)

Sechstens: Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Türkei einen Kompromiss mit den europäischen Kräften und den Vereinigten Staaten im Hinblick auf die Frage des Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands eingehen wird. In Anbetracht der aktuellen Gegebenheiten ist es nicht wahrscheinlich, dass Ankara weiterhin auf die komplette Ablehnung des Nato-Beitritts beider Staaten beharrt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Ankara nach Erlangung einiger „Befriedigungszugeständnisse“ im Hinblick auf die vier Aspekte, die weiter oben unter Viertens erwähnt wurden, dem Beitritt letztendlich zustimmt. Das mag einige Zeit in Anspruch nehmen, dennoch geschah bereits Ähnliches in der Vergangenheit… So protestierte die Türkei im Jahr 2019 gegen die Ernennung des ehemaligen dänischen Premierministers Anders Fogh Rasmussen zum Nato-Chef. Sodann kam es zu Verhandlungen, die einige Zeit in Anspruch nahmen. Letztendlich aber stimmte die Türkei der Ernennung von Anders Fogh Rasmussen zu und bekam im Gegenzug einige „Befriedigungsposten“ im politischen und militärischen Apparat des Bündnisses zugesprochen.

2. Ḏū l-Qaʿda 1443 n. H.
1.6.2022 n. Chr.
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